„Schneckenhaus-Sammlung“ mosaik Zeitschrift für Literatur und Kultur, 2024
Dana Engfer arbeitet installativ mit einer Vielfalt an Medien wie Zeichnung, Fotografie, Video, Sound und Buchobjekte. Die in Berlin lebenden Künstlerin sammelt und archiviert Erinnerungsfragmente in multimedialer Form und entwickelt eine visuelle Sprache für Zwischenzustände.
Für mein fortlaufendes Projekt sammle ich Schneckenhäuser aus der ganzen Welt, die mir postalisch zugesendet werden. Mit der Schneckenhaus-Sammlung habe ich im Jahre 2021 während des Corona-Lockdowns begonnen. Bezugnehmend auf die plötzliche Unmöglichkeit des Reisens kamen durch die Schneckenhäuser im übertragenen Sinne
andere ‚Orte‘ zu mir. Je nach Herkunftsort und dessen geographischer Beschaffenheit variieren Farbigkeit, Festigkeit und Form der Schneckenhäuser. Jedes Schneckenhaus trägt eine Geschichte und Zeitspanne in sich und erzählt von dem jeweiligen Herkunftsort. Mittlerweile habe ich Schneckenhäuser aus verschiedenen Regionen in Peru, Irland, Polen, Island, Tunesien,Italien, England, Frankreich, Portugal und Deutschland in der Sammlung.
Die Schneckenhäuser dokumentiere ich im Format der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie. Durch die analoge Technik verlangsamt und intensiviert sich die Dokumentation der Objekte. Zudem lasse ich Röntgenaufnahmen von ihnen machen. Im Anschluss werden die Schneckenhäuser zu feinem Sand gemörsert. Dieser fast schon brutale Akt des Zermörserns der architektonisch perfekten Gebilde steht im Spannungsfeld zu deren feiner Beschaffenheit. Durch das Mörsern werden die Schneckenhäuser in ihre kleinst mögliche Einheit zerlegt, die kurz vor dem Verschwinden liegt. In Reagenzgläser umgefüllt, mit Datum und Herkunftsort versehen, werden sie archiviert. In Ausstellungsräumen präsentiere ich die gemörserten Schneckenhäuser als temporäre Spuren.
Die Spuren werden zumeist auf einer Glasplatte in einer Vitrine gezeigt und unterstreichen dadurch den archivarischen und fragilen Charakter der Sammlung. Durch das langsame ‚Auftragen‘ der gemörserten Schneckenhäuser wird ein weiterer zeitlicher Aspekt aufgezeigt. Nach einer Ausstellung fülle ich dieSpuren vorsichtig in die Reagenzgläser zurück. Dabei ist es unmöglich, das komplette ‚Schneckenhaus-Pulver‘ einzusammeln und ein kleiner Teil davon bleibt, kaum sichtbar, im Ausstellungsraum.
Die analogen Schwarz-Weiß-Fotografien der Schneckenhäuser werden entweder auf dem Boden oder an der Wand gezeigt. Bei der Installation auf dem Boden werden sie durch Glasscheiben geschützt und rufen Assoziationen zu Friedhöfen hervor. Ein zeitlicher Aspekt der Endlichkeit wird assoziiert.
Die Schneckenhaus-Sammlung kreist um die Fragestellung: Was bleibt? Spuren der Schneckenhäuser treffen auf Spuren der jeweiligen Ausstellungsräume. An dieser Stelle möchte ich die Künstlerin Reinhild Patzelt zitieren, die einen Ausstellungstext über die Sammlung für meine Ausstellung Schneckenhaus-Sammlung und Wale in der Alten Lederfabrik Halle im Jahr 2023 geschrieben hat und gerade eben die mir wichtige Fragestellung nach dem, was bleibt, hervorhebt.
Prägnant fasst sie das Konzept der Ausstellung und ihre Erfahrung als Rezipientin in Worte: „Das Schneckenhaus als unbewohntes ist eine Spur, die auf vorangegangenes Leben – das der Schnecke – verweist. Von dieser Spur selbst finden wir in der Ausstellung nur noch eine, nein: zwei Spuren: die Fotografien als Abbildungen der Schneckenhäuser, und die zu Kalkstaub zerkleinerten Schneckenhäu-ser – die einen als Bodeninstallation angeordnet, die anderen, in kleinen Reagenzgläschen aufbewahrt, in einer Vitrine präsentiert. Wir sind eingeladen, die Zeichen zu deuten, zurückzudenken an eine Zeit vor dem jetzt noch sichtbar Hinterlassenen – also überhaupt in Zeiträumen zu denken.“
Dieses von Patzelt formulierte Denken in Zeiträumen ist ein Aspekt, der sich auch auf ein
Fotoprojekt anwenden lässt, dass die bisher beschriebene Schneckenhaus-Sammlung ergänzt: Schneckenhäuser der Sammlung werden auf verschiedenen, in einem alten Familienalbum gefundenen Schwarz-Weiß-Fotografien gelegt, genauer gesagt auf die Köpfe der dort abgebildeten Menschen. Durch erneutes Abfotografieren entsteht die Zusammenführung der Objekte mit der Fotografie, die Schneckenhäuser werden als Köpfe
getragen. Verschiedene Zeit- und Erinnerungsfragmente lassen Freiraum für eigene Assoziationen.
Das ‚Schnecken-Dasein‘ wächst beständig um weitere Dimensionen. Ein Charakteristikum meiner Arbeit ist, dass ich mich mit einer Vielfalt an Medien aus einandersetze und mich so
einem Thema auf unterschiedliche Weise immer wieder aufs Neue nähere. Es entstehen komplexe, stetig wachsenden Welten, die sich im Gesamtkontext nichtsdestoweniger durch eine innere Stimmigkeit auszeichnen. Beispiel dafür ist etwa das Video Wolkensonate mit
Schnecke: Aus einem Zugfenster heraus gefilmte Oberstromleitungen bewegen sich rhythmisch und fragmentarisch zu einer Klangcollage, basierend auf einem gesampelten ASMR-Sound von Schnecken, die Gurke, Kopfsalat und grüne Wassermelone essen. Durch die nicht greifbaren, teilweise verstörenden, aber teilweise ein wohliges Gefühl hervorrufenden Klänge, wird eine weitere Dimension des ‚Schnecken-Daseins‘ eröffnet.
Die grundsätzliche Faszination, die für mich von Schneckenhäusern und Schnecken ausgeht, übersetzt sich also in vielschichtige, miteinander korrelierende Projekte. Dazu zählt auch, dass Schnecken zur Inspirationsquelle für die Gründung eines kleinen Verlags wurden: Mit meinem Partner Moritz Otto betreibe ich Schnecken Publishing, 2021 erschien mit Heftschnecke die erste Publikation. Seitdem veröffentlichen wir in langsamen Abständen Kunst -und Kinderbücher unterschiedlichen Genres.