Ausstellung „Schneckenhaus-Sammlung und Wale“ – Städtische Galerie „Alte Lederfabrik“, Halle/W., 2023

Einführung Dana Engfer – Schneckenhaus-Sammlung und Wale
Städtische Galerie „Alte Lederfabrik“, Halle/W., 07.05.2023

Von Reinhild Patzelt

Dana Engfer lädt uns ein, ihre Arbeiten zu betrachten, die sie uns in dieser Ausstellung mit dem Titel „Schneckenhaus-Sammlung und Wale“ zeigt.
Schneckenhaus-Sammlung und Wale – eine naturkundliche Zurschaustellung von Extremen, von Exemplaren einer unscheinbar kleinen sowie der größten uns bekannten Tierart ?
Keineswegs.
Schauen wir uns um, entdecken wir sehr rasch, dass wir es hier nicht mit einer auf schnellen, sensationsheischenden Effekt bedachten Show zu tun haben.
Dana Engfers künstlerischer Umgang mit Schneckenhäusern und Walen weist über die nüchterne, fast strenge Form der Präsentation hinaus auf eine Arbeitsweise, die mit Begriffen wie Beharrlichkeit und Ausdauer, suchen und dokumentieren, aufspüren und spüren lassen, sichtbar machen und verhüllen nur andeutungsweise beschrieben werden kann.
Dass das Wesentliche im unspektakulären Bereich zu finden sei, wurde und wird gerne an solchen Textstellen angeführt – ist aber ungeachtet seiner zunehmenden Verwendung keineswegs weniger wahr – und sei deshalb auch jetzt gerne wieder erwähnt.
Stellt sich die Frage, was das nun sei, das „Wesentliche“.
Es scheint geraten, sich mit der Beantwortung dieser Frage etwas Zeit zu lassen – sie fordert vermutlich mehr Zeit, als für den Ausstellungsbesuch vorgesehen war.

Zum Thema „Schneckenhaus-Sammlung“ gibt es schnellere Auskünfte. Lassen wir hier Dana Engfer selber zu Wort kommen:
„Seit zwei Jahren sammle ich Schneckenhäuser aus der ganzen Welt, die mir postalisch zugeschickt werden. Ich dokumentiere die Schneckenhäuser mit analoger schwarz-weiß Fotografie und lasse Röntgenaufnahmen von ihnen machen.
Anschließend werden sie zu feinem Sand gemörsert. In Reagenzgläser umgefüllt, mit Datum und Herkunftsort versehen, werden sie archiviert und als temporäre Spuren präsentiert. Mittlerweile sind in meiner Sammlung 25 Schneckenhäuser. Je nach Herkunftsort und dessen geographischer Beschaffenheit variieren Farbigkeit und Festigkeit der Schneckenhäuser. Mittlerweile habe ich Schneckenhäuser aus Peru, Irland, Polen, Island, Frankreich, Tunesien, England, Portugal, Deutschland und von der Nordsee. Jedes Schneckenhaus trägt eine Geschichte in sich und erzählt durch die Beschaffenheit des Hauses von dem jeweiligen Herkunftsort.

Die Schneckenhaus-Sammlung kreist um die Fragestellung was bleibt. Spuren der Schneckenhäuser treffen auf Spuren der Geschichte der Alten Lederfabrik.

Spuren also – sichtbare Zeichen, Hinterlassenschaften von Bewegungen, die in Raum und/oder Zeit stattgefunden haben.

Die Frage, was bleibt, hat banal-lebenspraktische wie auch existentielle Aspekte:

Was bleibt an täglicher Lebenszeit, wenn ich acht oder zehn Stunden arbeite, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen?
Was bleibt von meinem Gelderwerb am Monatsende übrig – kann ich auf etwas sparen oder lebe ich „von der Hand in den Mund“?
Was bleibt an Erinnerung an einen intensiv erlebten Urlaub/Tag/Moment?
Was bleibt von der Liebe nach langen Jahren des Zusammenlebens?
Was bleibt von meinem Leben/von mir, wenn ich nicht mehr bin?

Zurück zur Schneckenhaus-Sammlung:
Das Schneckenhaus als unbewohntes ist eine Spur, die auf vorangegangenes Leben – das der Schnecke – verweist. Von dieser Spur selbst finden wir in der Ausstellung nur noch eine, nein, zwei Spuren: die Fotografien als Abbildungen der Schneckenhäuser, und die zu Kalkstaub zerkleinerten Schneckenhäuser – die einen als Bodeninstallation angeordnet, die anderen, in kleinen Reagenzgläschen aufbewahrt, in einer Vitrine präsentiert.
Wir sind eingeladen, die Zeichen zu deuten, zurückzudenken an eine Zeit vor dem jetzt noch sichtbar Hinterlassenen – also überhaupt in Zeiträumen zu denken.

Zur Form der Schneckenhäuser:
Die gewundene Spiralform hat Menschen offenbar schon in vor- und frühgeschichtlicher Zeit fasziniert und zur Anfertigung von Ornamenten und Objekten mit möglicherweise symbolischer und/oder ritueller Bedeutung bewegt. Auch in zahlreichen Kulturen und Mythologien taucht das Schneckenhaus (das der Meeresschnecken, in seiner deutlich größeren Ausbildung) als Schneckenhorn auf:

„Der griechische Meeresgott Triton wird als Schneckenhornbläser dargestellt. Das bei religiösen Ritualen in Indien verwendete und als heilig angesehene shankh ist das Attribut Vishnus. Es gelangte mit dem indischen Kulturexport im 1. Jahrtausend nach Tibet (dung kar), nach Ostasien (horagai in Japan) und Südostasien (sang in Thailand). In den präkolumbischen Kulturen Mesoamerikas war die Schneckentrompete ein wesentliches Ritualinstrument der Priester. Die Priester der peruanischen Chavín-Kultur im 1. Jahrtausend v. Chr. erlangten mit dem heiligen Blasinstrument (Quechua pututu) Macht über das Wasser. … in der griechischen Mythologie und nachfolgend bei den Römern galt der Klang des Schneckenhorns als machtvolles Zeichen. Triton, nach dem Dichter Hesiod (um 700 v. Chr.) ein Gott am Meeresgrund, der im goldenen Palast seiner schönen Mutter Amphitrite und seines Vaters Poseidon wohnt, wird als schreckenerregend und mit seinem Schneckenhorn als Frauenverführer beschrieben.“

Eine Zeichnung von D.E., Porträt des Schneckenhorn-blasenden Jazzmusikers Steve Turre, greift diesen Aspekt des Schneckenhorns als Klangerzeuger auf.

Die Videoarbeit „Wolkensonate mit Schnecke“ wiederum verbindet visuelles Zufallsmaterial – aus dem Zugfenster gefilmte Oberstromleitungen – mit einer Klangcollage, bei der Geräusche von Schnecken, die Gurken, Salat und Wassermelone fressen, zu hören sind.

Im Raum oben zieht eine großformatige Arbeit den Blick auf sich: auf einem halbtransparenten Fahnenstoff ist die Fotografie einer in ländlicher Umgebung zu Pferd sitzenden Frauengestalt zu erkennen, deren Kopf von einem Schneckenhaus überdeckt ist. Die Fotomontage lässt eine eigentümlich vieldeutige zugleich rätselhafte Atmosphäre entstehen.
Haben wir es mit einem Fabelwesen zu tun, halb Mensch, halb Einhorn, Symbol für das Gute, für Unschuld (das Pferd ist weiß)? Oder geht es vielmehr in feministischer Absicht – um die Darstellung der Frau als Erhabene, hoch zu Pferd, als Herrscherin? Eine „coole“ Jeanne D’Arc – jenseits des Schlachtengetümmels und der Kämpferinnenpose, entrückt in ein ländlich-romantisches Setting?
Auf einem Gemälde des französischen Malers Jean-Jaques Scherrer ist Jeanne D’Arc auf einem Pferd sitzend, mit einer Kopfbedeckung zu sehen, deren Form große Ähnlichkeit mit der eines Schneckenhauses aufweist. Von einer vor ihr stehenden Gestalt in Ritterrüstung wird ihr ein Schwert, Symbol der Macht, gereicht – der Blick der Reiterin aber ist in die Ferne gerichtet, wie entrückt, sie weiß um ihr künftiges Schicksal.
In Dana Engfers Fotomontage wird uns der Blick und Ausdruck der Frau allerdings verwehrt. Uns bleibt ihre Haltung zu Pferd. Das Rätsel des Schneckengehäuses auf dem Kopf bleibt ungelöst.
Der Fahnenstoff als Träger des Fotodruckes ist fast transparent und so vor die Fensterfront gehängt, dass der Betrachter durch das Bild der Reiterin und die Fenster hindurch den Hintergrund des gegenüberliegenden Gebäudeteils der ehemaligen Lederfabrik wahrnimmt. Die Fahne ist an einem Ledergurt aufgehängt – Leder und Architektur: ein zweifacher Bezug auf die Geschichte des heutigen Ausstellungsortes. Hier wurde unter anderem auch das Zaumzeug für Pferde hergestellt.

Auf dem Fensterglas hat Dana Engfer zudem eine Reihe von Röntgenaufnahmen von Schneckenhäusern angebracht und zeigt uns damit die der normalen Betrachtung verborgene Schönheit der Struktur eines solchen Naturgebildes, den inneren Kern, sozusagen als abstrakte Skizze.

2 Räume, 2 Themenschwerpunkte: Schneckenhäuser und Wale.

Zu ihren Arbeiten, die das Thema Wale umkreisen, schreibt Dana:
„Mein Projekt ‘Listening to the Sea‘ basiert auf einer Reise in die Westfjorde Islands. Dort habe ich Judith Scott, eine Wal-Fotografin und Whale Watching Guide kennengelernt. Nach ihrem ‘Wale Identification Catalogue‘ mit 180 Walflossen [Englisch: Flukes] aus dem arktischen Meer habe ich diese 180 Flukes aquarelliert und im Anschluss als Fotokopien zu einem ‘Walblock‘ gebunden. Ein weiterer Teil des Projekts sind verschiedene analoge Fotografien und eine Videoarbeit, die auf meinen Recherchen in den Westfjorden Islands basieren. Darunter auch die Arbeit ‘Walkreis‘. Ich habe die Meeresoberfläche fotografiert, auf der sich nach dem Abtauchen eines Wals nur noch für kurze Zeit eine Art Wasserkreis bildet, die letzte Spur eines bereits vergangenen Ereignisses.“

Die umfangreiche wandfüllende Arbeit der 176 hier gezeigten Walflossen bietet dem Betrachtenden einen ebenso katalogartig-dokumentarischen wie zeichnerisch poetischen Anblick von „Walgesichtern“, den Walflossen als Träger der individuellen Merkmale dieser Tiere. Ihre Vielfalt und Schönheit sind eindrucksvoll wiedergegeben.

Das bei der Walbeobachtungstour entstandene Foto und die Videoarbeit verweisen auf den besonderen Blick der Künstlerin. Gezeigt wird nicht das erwartete spektakuläre Ereignis aus dem Meer auftauchender Wale. Die Bilder vermitteln vielmehr eine Atmosphäre gespannten Erwartens, wir werden zu Beobachtern der Beobachtenden, die wir nur aus der Rückenansicht als kapuzenverhüllte Gestalten zu sehen bekommen.
Das Auf und Ab der Schiffs- und Wellenbewegungen und der Kapuzengestalten erzeugt eine gleichsam meditative Grundstimmung. Die dazu zu Gehör gebrachten Walstimmen – sog. Klickgeräusche – erzeugen ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen dem Sicht- und dem Hörbaren. Vielleicht ein Hinweis auf die Faszination, die diese großen Säugetiere mit ihrer eigenen Kommunikationsfähigkeit und Lebensweise auf uns kleinere Säugetiere ausüben.

Faszination – das Sich-beim-Beobachten-von-Dingen-und-Vorgängen-in-einen-Bann-ziehen-lassen – scheint mir ein wesentliches Moment der künstlerischen Arbeit von Dana Engfer zu sein. Dabei geht sie äußerst behutsam, fast zart und immer einfühlsam vor bei ihrem Bemühen, den beobachteten und erlebten Momenten die ihnen innewohnende Magie im künstlerischen Ausdruck wiederzugeben.
Die Qualität und Vielfalt der uns hier gezeigten Arbeiten bietet einen eindrucksvollen Beleg dafür, dass ihr das hervorragend gelungen ist.

Zum Schluss soll die Künstlerin noch einmal zu Wort kommen:

„Die Sichtbarmachung von Abwesendem und die Erforschung mir unbekannter Orte sind zentrale Themen meiner künstlerischen Arbeit. Ein intuitiver Annäherungsprozess führt mich zu Spuren der Vergangenheit, persönlichen Geschichten und Zwischenzuständen. Ich sammle und archiviere Erinnerungsfragmente aus meiner unmittelbaren Umgebung in multimedialer Form.“

Mir selbst bleibt nun nur noch zu sagen:

Ich wünsche euch und Ihnen in dieser Ausstellung viele genuss- und anregungsreiche Entdeckungen!
Eröffnen Sie sich diese Ausstellung!